Sommerbrief 2021

Liebe GIRASSOL-Freunde, seit eineinhalb Jahren versucht die Welt, Herr zu werden über das SARS-COV-2-Virus und seine mittlerweile zahlreichen Mutanten. Angesichts der Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten diesbezüglich in unserem eigenen Umfeld, bedarf es keiner Anstrengung und Phantasie sich vorzustellen, wie groß die Herausforderungen der Pandemiebekämpfung in einem Land mit den Dimensionen Brasiliens sind, selbst wenn alle anderen widrigen lokalen Begleitumstände außer Acht gelassen werden. Und wie überall auf der Welt wirkt CORONA auch in Brasilien wie ein Brandbeschleuniger und Vergrößerungsglas der sozio-ökonomischen Dissonanzen innerhalb der Gesellschaft. Sie alle, die Sie GIRASSOL unterstützen, werden in den Medien interessiert die Entwicklung der Geschehnisse auf der anderen Seite des Atlantiks verfolgen, und so wissen Sie, dass die Arbeit von NGOs wie die von SBA GIRASSOL Kids/Pro noch wichtiger als je zuvor geworden ist. Das, was in Grajaú geleistet wird, verändert das Leben einiger hundert Menschen zum Besseren - und davon möchten wir Ihnen im diesjährigen Sommerbrief berichten!

Vom 19. März 2020 an war GIRASSOL offiziell geschlossen, es durfte kein Präsenzunterricht stattfinden, um dem Verbreiten des Virus Einhalt zu gebieten. Nach dem ersten paralysierenden Schrecken wurde schnell erkannt, dass es von größter Wichtigkeit ist, den Kontakt zu „unseren“ Kindern und Jugendlichen nicht abreißen zu lassen. Was anfangs als vorübergehendes Provisorium für einige Wochen gedacht war, erwies sich als Gestaltungsgrundlage fürs tägliche Handhaben des Unterrichtens seither. In dieser großen Krise zeigte sich, dass der Teamgeist und der Zusammenhalt innerhalb der „GIRASSOL-Mannschaft“ tatsächlich so belastbar und außergewöhnlich ist, wie es bis dahin den Anschein erweckte: in vorher nie dagewesenen und vorher nicht vorstellbaren fortlaufenden Aktionen hat der Lehrkörper sowohl des Ausbildungszentrums als auch der Kita einen immer besser funktionierenden virtuellen Lehrplan auf die Beine gestellt.

Der Ausbilder für Elektrik und Koordinator des Ausbildungszentrums, Sr. Ronaldo, hat sich zusammen mit Dona Talita, Koordinatorin der Kita, über Gebühr dafür engagiert, alle Kollegen zu befähigen, diese Leistung überhaupt erbringen zu können. Es gelang ihnen, mit Unterstützung durch Firmen (z. B. Microsoft) und ehrenamtlich arbeitende Experten, 21 verschiedene Webinare, Kurse, Vorträge usw. zu Themen rund um die Digitalisierung für GIRASSOL zu organisieren. Teilweise erhielten die Teilnehmer Urkunden, die ihre beruflichen Lebensläufe nun aufwerten. Parallel riefen die SBA, unser örtlicher Trägerverein, und lokale Unterstützer dazu auf, abgelegte, nicht mehr gebrauchte Smartphones und Tablet-Computer an GIRASSOL zu spenden, um unsere mittellosen Auszubildenden damit auszustatten und damit deren Teilnahme am Distanzunterricht überhaupt erst möglich zu machen. Auch musste das Lehrpersonal mit entsprechendem Zubehör ausgestattet werden - was anfangs über „Handy-WhatsApp-Konferenzschaltungen“ halbwegs improvisiert bewerkstelligt werden konnte, war auf Dauer nicht machbar! Es gelang vor Ort, dieses digitale Equipment als Sachspenden zu erhalten oder als Ware aus zweiter Hand günstig zu erwerben.

Dona Cleibe, unsere Einrichtungsleiterin, war unablässig mit den diversen Behörden beschäftigt: Bildungsministerium, Gesundheitsministerium, Ordnungsamt, usw. erließen und erlassen (!) fortwährend in Teilen einander widersprechende Anordnungen, um diese wenig später wieder zu annullieren - die internationale neue Normalität . . .

Je weiter die Zeit fortschritt, desto klarer wurde, dass die Ausbildung der Jugendlichen eine riesige Lücke aufwies: praktisches Lehren und Lernen blieben auf der Strecke. Die GIRASSOL-Lehrerschaft hatte eine großartige Idee: nach dem Vorbild der „YouTube-Tutorials“ entwickelte jeder Kursleiter Module, die bestimmte Verfahren/Abläufe detailliert visualisieren. So wird der Auszubildende beispielsweise Schritt für Schritt angeleitet, einen Teig anzusetzen, um eine bestimmte Sorte Brot zuhause zu backen. Dabei muss natürlich berücksichtigt werden, dass die häuslichen Mittel der Schüler in jeder Hinsicht beschränkt sind, egal um welche Ausbildung es sich handelt . . .

Das Schuljahr ging zu Ende, ohne dass Präsenzunterricht noch einmal möglich gewesen wäre. Es blieb das Problem der nicht abgehaltenen praktischen Unterrichtseinheiten. Nach langem Hin und Her lag die behördliche Genehmigung für praktischen Unterricht in 35%iger Besetzung ab dem 03. Januar 2021 (mitten in den brasilianischen Sommerferien) vor. Also wurden die Gruppen aufgeteilt und traten umschichtig zu kurzen, ausschließlich praktischen Einheiten sechs Wochen lang an. Auf diese mussten die Jugendlichen sich zuhause mit den oben erläuterten Videomodulen vorbereiten und dann unter Aufsicht und Anleitung das Gesehene umsetzen. Es ist selbstredend, dass diese Lösung nur unbefriedigend ist - es war aber mehr in der derzeitigen Realität nicht möglich. Alle Auszubildenden, die bis dahin durchgehalten hatten, immerhin etwa zwei Drittel derer, die angefangen hatten, bestanden und erhielten ihre offiziellen Abschlusszertifikate. Trotz aller Freude, Stolz und Erleichterung, diesen Abschluss erlangt zu haben, mussten die Jugendlichen einen bitteren Wermutstropfen schlucken: ein großes Fest mit feierlicher Überreichung der Zertifikate (in Brasilien ein eigentlich unverzichtbarer Höhepunkt) konnte beim besten Willen nicht abgehalten werden.

Bei den Kitakindern war es etwas leichter, Wissen zu vermitteln und ihre Entwicklung zu fördern. Für sie war es anfangs ein großer Spaß, mit ihren Erzieherinnen zweimal täglich für eine halbe Stunde via Mamas Handy in Kontakt zu treten. Aber auch hier musste intensiv daran gearbeitet werden, die Methoden den Anforderungen anzupassen. Zu Beginn ging‘s darum, den Kontakt zu pflegen. Dann aber wurde klar: die „Großen“ mussten ernsthaft auf die bevorstehende Einschulung vorbereitet werden, die Kleineren durften nicht nur bespaßt werden. Inzwischen wurde auch für die Kids ein durchdachter virtueller Lehr- und Stundenplan entwickelt: es gibt Arbeitsblätter, die monatlich verteilt und täglich abgearbeitet werden, es gibt Module mit dem Musiklehrer und Bewegungseinheiten als Ersatz für den Sport, der in der Einrichtung normalerweise spielerisch stattfindet. Die Kleinen haben also auch ein echtes Pensum zu absolvieren und werden auf diesem Wege in ihrer Entwicklung gefördert. Die Erzieherinnen überbieten sich mit kreativen Einfällen, wie die Kinder noch effizienter und fesselnder angesprochen werden können. Als „unsere“ Erstklässler in die Schule kamen, fiel sofort auf, wie weit sie ihren Mitschülern voraus waren. Eine der Schulleiterinnen meldete sich bei Dona Cleibe, ob sie einmal vorbei kommen dürfe, GIRASSOL kennenzulernen. Ihr Fazit beim Abschied: „Isso aqui é uma maravilha!“ (Das hier ist ein Wunder!)

Im Februar 2021 begann in GIRASSOL das neue Schuljahr unter sehr rigorosen Vorgaben. Diese umzusetzen, hat sehr viel Aufwand und auch Geld gekostet: Markierungen auf dem Boden, Laufwege und Standpunkte aufzeigend unter Abstandswahrung. Für das gesamte Personal, wie auch für die Berufsschüler mussten zusätzlich zu den Masken Gesichtsvisiere angeschafft werden. Die Arbeitsplätze in den Lehrwerkstätten mussten mit Trennwänden versehen werden, wie auch Bereiche, an denen Publikumsverkehr stattfindet (Empfang, Sekretariat, usw.). Es dürfen nur 35% der Gruppen anwesend sein, was zu umschichtiger, zeitlich verkürzter Präsenz der Kinder und Jugendlichen führt. Die Kinder müssen beim Einnehmen der Mahlzeiten jeweils einzeln an den Tischen sitzen, dürfen die Spielplätze nicht benutzen und ansonsten nur dann draußen spielen, wenn unter Anleitung die Abstände eingehalten werden. Es herrscht auf dem gesamten GIRASSOL-Gelände für ALLE, von der Köchin bis zum Dreijährigen, eine strikte Maskenpflicht, drinnen wie draußen. Schier endlos ließe sich über diesen Auflagenkatalog berichten. Aber es ist alles besser als gar keine Präsenz, keine persönlichen Kontakte, die bei unserer „Klientel“ von so essentieller Bedeutung sind!

Keine drei Wochen nach Wiederaufnahme des Lehrbetriebes im Februar musste schon wieder geschlossen werden, weil mehrere Kinder positiv getestet wurden und 14 Tage Quarantäne für die ganze Einrichtung verpflichtend war. Lückenlos daran schloss sich der soundsovielte behördliche lock down an. Dieser ist nun auch wieder aufgehoben und GIRASSOL hat sich seit Ende April unter den geschilderten Bedingungen wieder bevölkert. Die gesamte Lage ist frustrierend und für alle vor Ort über die Maßen anstrengend und aufreibend. Dennoch empfinden alle auch große Befriedigung in Anbetracht des Geleisteten; dessen, was vor einem Jahr sich noch keiner vorstellen konnte, was man würde erreichen wollen, müssen und wahrhaftig auch können.

Was in GIRASSOL in den zurückliegenden Monaten alles gelungen ist, überwunden werden konnte und angepackt wurde, beweist, wie erfinderisch Not macht; zeigt, wie weit man über sich hinauswachsen kann, wie stark vereinte Kräfte machen. Die Leistungen von GIRASSOL in diesen Zeiten ungekannter Herausforderungen haben sich auch bei den verschiedenen Behörden herumgesprochen, die in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder ihre Emissäre hinausschicken, alles einmal persönlich in Augenschein zu nehmen. Staunen und Anerkennung sind groß und regelmäßig wird dann die Bitte um Hilfestellung vorgebracht, um in den eigenen Einrichtungen die Auflagen besser umsetzen zu können. Das ist für das GIRASSOL-Team natürlich eine unbezahlbare, außerordentlich wertvolle Motivation und spornt zu weiteren Höchstleistungen an. Und noch etwas hat sich als sehr wertvoll erwiesen: es konnte vermieden werden, Mitarbeiter in dieser schweren Krise zu entlassen. Alle, die bei uns in Grajaú arbeiten, begreifen sich als Teil von etwas Besonderem, das Anerkennenswertes vollbringt, weit über das Erwartete hinaus.

Nach wie vor blickt die Welt in eine von der Pandemie beherrschten Zukunft - daran kann keiner von uns etwas ändern. Aber dank Ihrer Unterstützung gelingt es GIRASSOL in São Paulo sehr wohl, unseren Kitakindern, unseren Auszubildenden und ihren Familien trotz der widrigen aktuellen Realität eine hoffnungsfrohe Zukunftsperspektive aufzuzeigen. Nur durch Ihre Spenden ist die großartige Arbeit in Grajaú möglich. Der vor uns liegende Weg wird noch eine Weile sehr steinig bleiben - bitte gehen Sie ihn weiter mit uns, denn er führt viele Menschen durch Bildung aus den lähmenden Fängen der Armut! Es ist im Moment Vieles nicht schön, dennoch haben wir viele Gründe optimistisch zu sein und das verdanken wir auch Ihnen!

Zuversichtlich und dankbar grüßen Sie
Andreas Krebs und Dr. Thomas Schmidt

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