Sommerbrief 2020

Liebe GIRASSOL-Freunde, es fällt nicht leicht, einen Anfang für den GIRASSOL-Sommerbrief 2020 zu finden.

Das neue Schuljahr hatte ganz normal begonnen: Kinder, Auszubildende, Lehrkräfte und die übrigen Mitarbeiter hatten sich aufeinander eingespielt. Lehren und Lernen wurden begleitet vom üblichen „Schullärm“, der sonnigen Wärme des Spätsommers und dem Geklapper und den Düften aus der Küche. GIRASSOL vibrierte in der hoffnungsfrohen Erwartung an das Schuljahr 2020!

Nach Karneval begann sich jedoch auch in Brasilien der Ernst der Corona-Lage abzuzeichnen. Schon in den ersten Märztagen veranlasste unser örtlicher Trägerverein, die SBA, für das von ihr betriebene große Altersheim sehr strenge Maßnahmen zum Schutz der Bewohner: allerhöchste Hygienestandards, Besuchsverbot, maximale Begrenzung der Außenkontakte (zu Lieferanten, Dienstleistern, usw.). Bereits in der zweiten Märzwoche hielt der Pflegeleiter des SBA-Altersheimes bei GIRASSOL eine ganztägige Schulung zum Umgang mit COVID-19 ab, gerichtet an alle Mitarbeiter, Schüler, Kita-Kids und ihre Angehörigen (wir berichteten darüber auf unserer Homepage und auf Facebook).

Dann hat das dramatische Tempo der vom Bundesstaat São Paulo ausgegebenen Verordnungen alle hoffnungsfrohen Erwartungen, alle Planungen überrollt – seit dem 19. März sind alle Bildungseinrichtungen geschlossen, alle Geschäfte (außer Supermärkten, Apotheken und Tankstellen), alle Restaurants, Kinos, Theater, Behörden. Wo immer möglich, ist im Homeoffice zu arbeiten, die Menschen sollen zuhause bleiben, zu anderen Abstand halten: allen ist der englische Ausdruck „shut down“ für diese Situation mittlerweile geläufig. Und natürlich soll die Bevölkerung sich häufig die Hände waschen, überhaupt für Sauberkeit sorgen und Nasen-Mund-Schutzmasken tragen außerhalb des eigenen Heims.

Soweit so richtig – wie bei uns, möchte man denken. Dass überhaupt solche Maßnahmen ergriffen wurden, liegt daran, dass die Gouverneure der einzelnen Bundesstaaten seit Wochen die Verantwortung übernommen haben und versuchen, die Verhaltensregeln der WHO umzusetzen. Das öffentliche Gesundheitssystem ist chronisch unterfinanziert, geprägt von Missmanagement, katastrophal ausgestattet und demzufolge über die Maßen ineffizient.

Entwickelt ein „favela“-Bewohner also Corona-Symptome, wird ihm wahrscheinlich das Geld fehlen, um zum Arzt/Krankenhaus zu fahren. Kommt er aber doch bei einer Klinik an, wird er möglicherweise Tage darauf warten, untersucht zu werden, um dann zu erfahren, dass für ihn kein freies Bett oder gar ein Platz in einer Intensivstation zur Verfügung steht. Er wird höchstwahrscheinlich, mit ein paar Fieber senkenden Tabletten versehen, nach Hause geschickt werden, mit der Empfehlung, in drei Tagen sich erneut vorzustellen ... Es ist nicht sicher, dass der Patient all‘ die Unannehmlichkeiten ein weiteres Mal auf sich nehmen wird. Wahrscheinlicher ist, er wird ohne ärztliche Versorgung gesund oder er verstirbt daheim ohne Diagnose, die Dunkelziffer der Todesfälle erhöhend, andere infizierend.

Und bedenken Sie bitte die Lebensrealität des GIRASSOL-Umfeldes! Unsere Kinder und Jugendlichen mit ihren Familien leben unter für Mitteleuropäer schwer vorstellbaren Bedingungen: ihr Häuschen ist manchmal nicht mehr als eine Hütte, hat nur selten mehr als zwei Räume, die sich mitunter sechs, acht und mehr Personen teilen müssen. Sanitäreinrichtungen wie wir sie kennen? Nicht vorhanden, häufig muss das Wasser in Eimern von einem Gemeinschaftswasserhahn mehrere hundert Meter nach Hause geschafft werden … Die Abwässer suchen sich nicht kanalisiert ihren Weg – so viel zu Hygiene und verstärkter Sauberkeit. Außerdem liegen die Häuser direkt beieinander, Wand an Wand; Türen und Fenster schließen schlecht; die Dächer bestehen aus Wellblech- oder Kunststoffplatten. Das bedeutet extreme Hitze im Sommer und große Kälte im Winter und gelegentlich regnet es auch rein.

Darum, und um der Enge zu entkommen, halten sich die Menschen vornehmlich draußen auf – wobei diese Armensiedlungen, in denen oftmals mehrere `zigtausend Menschen leben, von eher schmalen Straßen durchzogen werden, oft sind es nur Gässchen und Wege. Zu anderen Abstand zu halten, funktioniert also nicht wirklich. Schlimmer noch: „favela“-Bewohner sind eher selten in einem regulären Arbeitsverhältnis beschäftigt. So sie denn Arbeit haben, handelt es sich oft um Tagelöhner/Gelegenheitsjobs oder sie versuchen, sich als Selbstständige irgendwie über Wasser zu halten, indem sie mit einem Bauchladen umherziehen, beispielsweise. Kurzarbeitergeld ist in Brasilien genauso unbekannt wie staatliche Unterstützung für Selbständige. Sie merken es schon: der „shut down“ hat so gut wie all‘ diesen Leuten das Einkommen genommen. Kein Geld heißt dann sofort auch: kein Essen auf dem Tisch – denn Rücklagen haben diese Menschen genauso wenig wie Platz für einen kleinen Gemüsegarten oder ein paar Hühner auf dem Hof...

Es sind diese widrigen Gegebenheiten und Lebenswirklichkeiten, die die Arbeit von GIRASSOL in Grajaú so wichtig und wertvoll machen. Die Einrichtung ist ein Leuchtturm, der Perspektiven auf einen Weg aus dieser Armut bietet. Und mit der Schließung von GIRASSOL fehlt jetzt nicht nur die Ausbildung der Jugendlichen, sondern auch die Betreuung und die ganztägige Verköstigung der Kinder.

Mit dieser etwas ausführlicheren Schilderung der Lebensumstände unserer GIRASSOL-Schützlinge, wollen wir Sie ein wenig sensibilisieren für die großen Sorgen, die uns vom Förderverein, sowie die SBA, als auch die Leitung von GIRASSOL umtreiben. Es weiß in São Paulo keiner, wann und unter welchen Voraussetzungen der Betrieb in Schulen und Kitas wieder möglich sein wird. Derzeit wird davon ausgegangen, dass GIRASSOL erst im August/September wieder in einen noch zu definierenden Regelbetrieb treten kann. Bis dahin konzentrieren wir uns auf zweierlei: Kontakt halten zu den Kindern und Jugendlichen mit ihren Familien und versuchen, den Hunger zu lindern.

Seit Mitte April versuchen die Lehrer den Auszubildenden via Mobiltelefon so etwas wie Unterricht anzubieten; einfache Handys besitzen die Jugendlichen fast alle, PCs natürlich nicht. Es ist allen Verantwortlichen bewusst, dass diese Maßnahmen viel mehr dazu dienen, den Kontakt zu halten, als der Wissensvermehrung. Aber so haben wir von den erdrückenden Ängsten in den Familien direkt gehört; viele wissen nicht mehr, wie sie ihre Lebensmittel bezahlen sollen.

Zu den Knirpsen halten die Erzieherinnen über die Handys der Mütter die Verbindung aufrecht. Die Kleinen bekommen „Aufgaben“ gestellt: die Familie mit Schutzmasken malen, das Mittagessen, eine Blume für Mama zum Muttertag, usw. Und so wissen wir, auch bei diesen Familien herrscht blanke Not, zumal die Kinder bei GIRASSOL ja sonst den Tag über voll verköstigt werden ... Selbst wenn die Mütter noch Arbeit haben, sind sie durch die unbetreuten Kinder in vielen Fällen daran gehindert, dieser nachzugehen. Das GIRASSOL-Team vor Ort leistet Großartiges, den Kontakt nicht abreißen zu lassen, sich die Sorgen der Familien anzuhören.

Es ist schlimm genug, nur materiell helfen zu können, aber das wenigstens möchten wir tun, solange es nötig bleibt – keiner von GIRASSOL soll hungern müssen!! Ermöglicht durch eine lokale Spende, fand Ende April die erste „cesta-básica“ (Grundnahrungsmittelkorb) – Aktion statt: SBA GIRASSOL hat für die Kita-Familien ein umfangreiches Lebensmittelpaket zusammengestellt, das im Speisesaal unter den derzeitigen Vorsichtsmaßnahmen ausgehändigt wurde. Das komplette Sortiment (Reis, Bohnen, Nudeln, Öl, Salz, Konserven, Zucker, H-Milch, Seife, Zahnpasta, usw., usw.) wurde in Supermärkten der Umgebung von GIRASSOL gekauft, um somit auch dem Handel in dieser ärmlichen Gegend zu helfen.

Das Werben um Geld- und Sachspenden vor Ort für das gleiche Unterfangen im Mai ist in vollem Gange, aber unsere zusätzliche Mithilfe aus Europa ist dringend erforderlich. Ab diesem Monat sollen auch die Auszubildenden diese Hilfe erhalten, zumal die Jugendlichen häufig neben Schule und Ausbildung auch noch arbeiten, um das Budget ihrer Familien aufzubessern – Arbeit, die die meisten nun nicht mehr haben. Es sollen jeden Monat 350 Pakete à € 20 gepackt werden. Wir möchten diese Unterstützung bis September aufrechterhalten, davon ausgehend, dass dann viele wieder ein Einkommen haben werden. Das bedeutet, wir brauchen ca. € 28.000, um zu verhindern, dass die Familien unserer GIRASSOL-Schützlinge Hunger leiden müssen.

Es gibt aber auch Licht in diesen dunklen Zeiten! Ein klein wenig stolz und sehr zufrieden möchten wir von dem wertvollen Beitrag berichten, den der Schneiderei-Kurs zu den unerlässlichen Hygienemaßnahmen im SBA-Altersheim seit nunmehr zwei Wochen leistet. Wie überall auf der Welt mangelt es auch in Brasilien an Pflege-Grundausrüstung und Material. Der Preis für Nasen-Mund-Schutzmasken hat sich beinahe verhundertfacht - so man überhaupt welche ergattern kann. Es grenzt an ein Wunder, dass es der SBA-Leitung gelungen ist, große Mengen des Gewebes zu erwerben, aus dem diese Masken bestehen. Dazu konnten viele, viele Meter der Verschlussbänder aufgetrieben werden. Der GIRASSOL-Leitung gelang es, aufgrund der Systemrelevanz eine Sondergenehmigung für den Betrieb der Schneiderwerkstatt zu erwirken.

Nun nähen Freiwillige aus den Reihen der Kursteilnehmer in wechselnder Besetzung unter Einhaltung aller Vorschriften (Mindestabstand, Nasen-Mund-Schutz, Handdesinfektion, usw.) täglich Hunderte Einwegmasken für das Pflegepersonal des SBA-Altersheims, für die „cestas básicas“ und für die GIRASSOL Belegschaft, wenn da wieder gestartet werden darf. Die Schneiderei-Azubis gewinnen im Eiltempo Erfahrung im „Industrienähen“ und empfinden, wie sie selbst versichern, großen Stolz und fühlen sich geehrt, für diese Aufgabe geeignet zu sein. Wie wertvoll ist es, in dieser verunsichernden Zeit, Menschen den Genuss von Erfolgserlebnissen zu bescheren! Wir in Europa spüren alle – jeder auf seine Weise – die Unannehmlichkeiten (und müssen damit umgehen), die dieses noch unerforschte Virus uns bereitet.

Was den Menschen anderorts durch COVID-19 abverlangt wird, können wir uns kaum vorstellen. Aber wir alle aus der großen GIRASSOL-Familie können wirklich und wirkungsvoll helfen, die Not einiger Hundert Menschen ganz konkret zu lindern. Und das bedeutet: wir können große Sorgen kleiner machen und damit können wir Hoffnung schenken! Bitte tragen Sie dazu bei, dass Hunger die Menschen nicht zusätzlich schwächt und damit noch leichter zur Beute der Pandemie werden lässt! Es bricht uns fast das Herz, diesen verfrühten Sommerbrief mit so traurigen Fakten zu befrachten und um zusätzliche Spenden zu bitten, um einer so bitteren Wahrheit entgegen zu treten: den leeren Tellern!

Niemand weiß, was die Zukunft bringen mag. Aber wir sind sicher, dass wir zurückkehren werden auf den Weg zur Bildung, die aus der Armut führt! Im Moment geht es aber tatsächlich um Existentielles und wir bitten Sie sehr, die Menschen von GIRASSOL wieder mit Ihrer helfenden Großzügigkeit zu bedenken. Nur gemeinsam sind wir stark, nur gemeinsam wird die Menschheit diese Krise wirklich meistern können. In diesem Sinne möchten wir uns verabschieden und für Ihre Unterstützung danken!

Ihre Andreas Krebs und Dr. Thomas Schmidt  

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